Titelangaben
Heinemann, Isabel:
Das Paar als Reproduktionsinstanz? Paare im Fokus von humangenetischer Beratung in Ost- und Westdeutschland während der 1950er bis 1980er Jahre.
In: Geschichte und Gesellschaft.
Bd. 48
(2022)
Heft 3
.
- S. 334-366.
ISSN 2196-9000
DOI: https://doi.org/10.13109/gege.2022.48.3.334
Weitere URLs
Abstract
Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich in beiden deutschen Staaten die Aufmerksamkeit von Mediziner:innen, Expert:innen und Sozialpolitiker:innen auf das (Ehe)Paar und seinen Nachwuchs, da der Familie als Basis der Wiederaufbaugesellschaft eine hohe Bedeutung zukam. Dabei entwickelten sich in beiden Regimen jedoch durchaus verschiedene Ziele, Konzepte und Formen einer humangenetischen Beratungspraxis. Zwar agierten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten im Westen wie im Osten Berater:innen und Klient:innen unter dem Eindruck der NS-Vergangenheit, doch diese wurde in beiden Systemen höchst unterschiedlich thematisiert. Im Westen integrierten sich die Vertreter der neuen Disziplin der Humangenetik – zunächst allesamt ehemalige NS-Rassehygieniker –vergleichsweise reibungslos in die pronatalistische Politik der frühen Bundesrepublik. Eine erbbiologische Ehe- und Familienberatung sollte helfen, Erbkrankheiten zu reduzieren und Behinderungen zu verhindern. Auch die DDR verfolgte eine pronatalistische Politik, allerdings ausgehend von der offiziellen Gleichstellung von Mann und Frau und der Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. In beiden Staaten kam es erst in den 1970er Jahren zu Errichtung eines flächendeckenden humangenetischen Beratungsangebots, allerdings unter unterschiedlichen Zielsetzungen: Während Humangenetiker in der BRD vor allem auf Prävention setzten, die Forderung einer „Totalerfassung“ aller Krankheitsträger:innen jedoch unrealisierbar schien, rahmte die DDR-Humangenetiker Beratung einerseits als Voraussetzung für das „Glück des Individuums“, verfolgten jedoch auch umfassende Registerprojekten und forderten „negative Eugenik“.
Angesichts dieses Spannungsfelds ist zu klären, inwiefern das Paar als „Reproduktionsinstanz“ eine jeweils unterschiedliche Bedeutung und die beteiligten Individuen unterschiedliche Spielräume erhielten. Der Beitrag zielt auf eine gender- und wissenshistorische Analyse der Inhalte, Institutionen, Praktiken und Chronologien humangenetischer Beratung in Bundesrepublik und DDR am Beispiel von Beratungsakten und Mediziner- sowie Institutsnachlässen. Dies ermöglicht zum einen, die durch Beratung vermittelten Familienbilder und Geschlechterrollen im Systemvergleich zu betrachten. Zum anderen lässt sich der Blick auch auf Ziele, Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten (Agency) der Klient:innen dieser Beratung richten. Nicht zuletzt stehen die transnationale Zirkulation eugenischen und humangenetischen Wissens sowie die Bedeutung internationaler Diskurse und wissenschaftlicher Netzwerke im Fokus des Interesses.
Abstract in weiterer Sprache
After 1945, human genetic counseling in both German states focused on the married couple and its reproduction. While West German geneticists demanded “preventive counseling” to protect the national gene pool, their East German counterparts featured the “happiness of the individual”, but did not shy away from large register projects and “negative eugenics”. Clients, especially women, emerged from passive objects of human geneticist intervention to active subjects building their marriages and families with the help of expert advice. The article proposes a gendered reading of human genetic counseling in both German states with special focus on knowledge-circulation and the agency of clients.
Weitere Angaben
Publikationsform: | Artikel in einer Zeitschrift |
---|---|
Begutachteter Beitrag: | Ja |
Keywords: | Humangenetik; Humangenetische Beratung; Ehe und Familie; Reproduktion; BRD; DDR; Paar; Bundesrepublik |
Fachklassifikationen: | Neuere und Neueste Geschichte, Medizingeschichte, Wissensgeschichte, Geschichte und Ethik der Medizin |
Institutionen der Universität: | Fakultäten Fakultäten > Kulturwissenschaftliche Fakultät Fakultäten > Kulturwissenschaftliche Fakultät > Lehrstuhl Neueste Geschichte (19./20. Jh.) Fakultäten > Kulturwissenschaftliche Fakultät > Lehrstuhl Neueste Geschichte (19./20. Jh.) > Lehrstuhl Neueste Geschichte - Univ.-Prof. Dr. Isabel Heinemann |
Titel an der UBT entstanden: | Nein |
Themengebiete aus DDC: | 600 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften > 610 Medizin und Gesundheit 900 Geschichte und Geografie |
Eingestellt am: | 15 Mai 2023 06:49 |
Letzte Änderung: | 31 Aug 2023 07:21 |
URI: | https://eref.uni-bayreuth.de/id/eprint/76431 |